Konzentration braucht Sicherheit

Anton hat es schwer mit sich selbst und mit allen anderen. Seine Mitschüler beschweren sich oft über seine aggressiven Ausraster. Anton steht unter Dauerhochspannung und reagiert unkontrolliert schon bei Kleinigkeiten. Zwar möchte er sich auf den Unterricht konzentrieren, aber seine scharfgestellten Antennen sind zusätzlich immer auch auf der Suche nach möglichen Gefahren. Schon ein einzelner Blick von einem Mitschüler hinter ihm reicht aus, um bei Anton das Gefühl von Bedrohung auszulösen. In solchen Momenten kann er nicht anders: Er dreht sich um und entrüstet sich lauthals. Er ist so außer sich, dass er auf den Unterricht jetzt gar nicht mehr achten kann. Eine ganze Weile dauert es, bis er sich beruhigt.

Was ist der Moro-Reflex?

Anton hat Schwierigkeiten, auf veränderte Situationen selbstbestimmt und angemessen zu reagieren. Sein Verhalten wirkt, als wäre es durch ein festes Muster gesteuert, und er hat Schwierigkeiten, seine Emotionen im Griff zu behalten. Auf den Unterricht kann er sich nicht gut konzentrieren, aber was in seinem Umfeld geschieht, beobachtet er zwanghaft und genau. Hier entgeht ihm nichts. Obwohl er rüpelhaft grob und manchmal auch aggressiv mit seiner Umgebung umgeht, reagiert er selbst sehr empfindlich auf Kritik. Um sein Selbstbewusstsein steht es nicht gut. Und so kompensiert er seine Unsicherheit im Umgang mit anderen Menschen, indem er sie manipuliert und Kontrolle ausübt. Auch im Umgang mit anderen Kindern möchte er immer bestimmen. In Gesprächen ist Anton meist einsichtig und er möchte sich auch wirklich anders verhalten, denn er leidet selbst unter diesen Verhaltensmustern. Auch Strafen brachten keine Veränderung.

Was kann der Hintergrund solcher Stressreaktionen sein?

Bei Anton ist der frühkindliche Moro-Reflex noch aktiv. Er gehört zu einer Reihe von frühkindlichen Reflexen, die zu Beginn des Lebens das unreife Neugeborene unterstützen. Im Laufe des ersten Lebensjahres sollte die neuronale Entwicklung so verlaufen, dass diese Reflexe nicht mehr bemerkbar sind. Doch bei einigen Menschen können solche Reflexe in abgeschwächter Form weiterhin aktiv sein.

Der Moro-Reflex ist ein frühkindlicher Reflex, der bei Neugeborenen im Rahmen der normalen Entwicklung vorübergehend auftritt. Durch plötzliche, unerwartete Reize wie eine veränderte Kopfposition, Geräusche, etwas Unerwartetes im Sichtfeld oder plötzliche Berührung kann er bis zum vierten Lebensmonat oder etwas länger ausgelöst werden.

Dann läuft folgende Reaktion ab: Augen und Hände werden geöffnet, das Kind atmet ein und schreit, gleichzeitig werden Arme und Beine ausgestreckt. Bis zu sechs Wochen nach der Geburt kommt es danach zu einer Gegenreaktion und Arme und Beine werden zur Körpermitte gebeugt. Gleichzeitig wird das sympathische Nervensystem aktiviert, sowie Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet. Durch die Verknüpfung der Bewegungsreaktion mit Gehirnzentren, die Gefühle steuern, kommt es unweigerlich beim Säugling zu Angst, Erschrecken und Unbehagen.

Welchen Sinn hat der Moro-Reflex?

Dieser Reflex entwickelt sich bereits ab der 22. Schwangerschaftswoche. Schon während der Schwangerschaft kann er beispielsweise bei abrupten Bewegungen der Mutter ausgelöst werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach schützt der Fötus sich durch das Ausstrecken von Armen und Beinen vor gefährlichen Drehungen, die etwa zur Querlage oder Beckenendlage führen könnten.

Direkt nach der Geburt wird durch den Moro-Reflex der erste Atemzug ausgelöst. In den ersten Lebenswochen dient er weiterhin der Lagesicherung. Jetzt kann er nicht mehr nur durch plötzliche Bewegung, sondern durch verschiedenste plötzliche Sinnesreize aktiviert werden.

Moro-Reflex und Emotionen

Der Moro-Reflex unterstützt in der ersten Lebenszeit die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung. Parallel zur Bewegungsreaktion kommt es zu Stress beim Kind und negativen Gefühlen wie Unbehagen oder Erschrecken. Eine fürsorgliche Bezugsperson geht auf das Neugeborene ein und beruhigt es durch Halten und Tragen. Die emotionale Reaktion wird dadurch gleichzeitig mit der Bewegungsreaktion gehemmt. Die Moro-Reaktion lässt sich auch abmildern, indem man den Neugeborenen nicht frei auf dem Rücken liegen lässt, sondern ihm durch Kissen seitlichen Halt gibt, ihn mit Tüchern oder Schlafsäcken umwickelt, also „puckt“ oder ihm beim Tragen mit beiden Händen sicheren Halt gibt.

Wird dieser Reflex so selten wie möglich ausgelöst, ist das für die emotionale Entwicklung und das spätere Selbstvertrauen des Kindes eine gute Basis. Erlebt ein Kind häufige Aktivierungen, kann die Reizschwelle zum Auslösen sinken und es schreckhafter und empfindlicher werden.

Das „Halt geben“ benutzen wir normalerweise im übertragenen Sinn. Hier beim Neugeborenen ist es ganz konkret wichtig, prägt die Mutter-Kind-Bindung und die spätere Persönlichkeit.

Wenn der Moro-Reflex aktiv bleibt

Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kann es sein, dass der Moro-Reflex unvollständig integriert ist. Solche Menschen reagieren wie Anton auf plötzliche Reize folgendermaßen: Körpereigene Verteidigungsmechanismen aktivieren das sympathische Nervensystem und stimulieren die Nebennieren, die daraufhin die Stresshormone Adrenalin und Cortisol verstärkt ausschütten. Es kommt zu einer erhöhten Herz- und Atemfrequenz. Durch das Adrenalin werden die Sinne hypersensibel. Das hat wiederum Einfluss auf die Sinneswahrnehmung. Mögliche Symptome können sein:

  • Übermäßige Schreckhaftigkeit

  • Große Pupillen machen lichtempfindlich und erschweren das Sehen im Nahbereich.

  • Die Betroffenen sind geräuschempfindlich und sie haben Schwierigkeiten Hintergrundgeräusche auszublenden.

  • Der Gleichgewichtssinn und Körperwahrnehmung sind nicht gut ausgebildet.

  • Auf Berührung wird überempfindlich reagiert.

Da die Aktivierung des Nervensystems von unangenehmen Gefühlen begleitet ist, versuchen Betroffene sie zu vermeiden, indem sie ihre Umgebung beobachten und kontrollieren. Deshalb ist es für sie häufig auch so anstrengend, über längere Phasen konzentriert bei einer Aufgabe zu bleiben.

Ein bereits integrierter Moro-Reflex kann durch einschneidende Erlebnisse wie einen Unfall im späteren Leben wieder aktiv werden. Vor längerer Zeit beobachtete ich bei einer Wanderung eine derartige Reaktion. Auf dem Weg einen Abhang hinunter, ertönte plötzlich der laute Pfiff einer historischen Dampflock. Davon erschrocken riss eine Frau vor mir die Arme auseinander und fiel nach hinten zu Boden. Es brauchte eine Weile, bis sie sich beruhigen konnte. Hilfreich war ihr die Umarmung durch ihren Partner. Seit einem Unfall würde ihr so etwas häufiger passieren, berichtete sie.

Die nachträgliche Reflexintegration

Restreaktionen von Reflexen lassen sich nachträglich bei Kindern und Erwachsenen integrieren. Dazu nutze ich in der Praxis meistens die neuroenergetische Kinesiologie sowie Übungen aus dem Blomberg Rhythmic Movement Training (BRMT). Sollten Sie bei Ihrem Kind oder bei sich eines oder mehrere der beschriebenen Symptome erkennen, können wir während eines Beratungstermins abklären, ob der Moro-Reflex oder auch eine andere Reflexreaktion beteiligt ist.

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